Herbstblätter

Liebe Taiji-Freunde

Die Temperaturen sind gesunken, der erste Schnee schon gefallen und doch klingen in mir noch die milden Herbsttage nach, mit welchen wir dieses Jahr reich beschenkt wurden. Immer wieder zog es mich hoch zur Buessbergwiese, wo ich die Farbenpracht des Waldes bewunderte und mich vom Windspiel in den Baumkronen verzaubern liess.

Manche Blätter wurden hoch- und herumgewirbelt, andere segelten still und ruhig durch die Luft. Ihren eigenen Landeplatz fanden sie dann alle am Boden. Einfach faszinierend, wie jeder Baum, ja sogar jedes Blatt seine eigene Zeit hat für’s allmähliche Verfärben und  Loslassen. Beim Bestaunen der herunterfallenden Herbstblätter musste ich an den Prozess des Entspannens und Loslassens im Taiji denken.

Die luftig verspielte Akrobatik der fallenden Blätter ist nun in geerdeter Stille zur Ruhe gekommen. Auch jetzt wird man der Herbstblätter gewahr, jedoch weniger aus ästhetischen Gründen, sondern weil sie am Boden liegen und man auf ihnen ausrutschen könnte oder auch indirekt durch das lautstarke Getöse der Laubbläser. Immer seltener ist das rhythmische kratzen der fegenden Reisigbesen zu hören … Spannend, wie aus die Bäume krönender Schönheit dann plötzlich etwas wird, das mit Unfallgefahr oder lärmiger Gartenarbeit verbunden wird. Doch ob in der Baumkrone oder am Boden, eigentlich sind es die gleichen Blätter, einfach in einem anderen Stadium. So braun, klebrig und nass auf der Erde liegend sind sie vielleicht kein Blickfang mehr, dennoch haben sie genau dort ihren guten Grund zum Sein und in der Stille zu wirken: Sie schützen die Wurzeln vor Bodenfrost, bieten wertvollen Lebensraum für Klein- und Kleinsttiere, welche sie zersetzen und so die Erde mit wertvollen Nährstoffen düngen. Diese kommen dann wiederum den Wurzeln nährend zu Gute. So unscheinbar und manchmal auch störend die Blätter am Boden erscheinen mögen, so sind gerade sie für das Wohle der Bäume von grundlegender Bedeutung. Was hat das nun mit Taiji zu tun? Sehr viel. Bei Taiji denken die allermeisten Leute oft an die schönen, geschmeidig fliessenden Bewegungsformen. Nicht selten segeln dabei die Arme – wie vom Wind getragene Herbstblätter – beschwingt durch die Luft.

Stille in der Bewegung - Bewegung in der Stille

Welche Bedeutung den nicht so spektakulären Taiji Grundlagenübungen zur Entwicklung solcher Bewegungsqualitäten zukommt, wird jedoch oft verkannt. „基本功“ = „Ji Ben Gong“ ist das Chinesische Wort für „Grundlagenübungen“. Während das Zeichen „基“ = „Ji“ mit „Grundlage / Basis / Fundament“, und das Zeichen „功“ = „Gong“ mit „Übung / Training / Fertigkeit“ übersetzt werden kann, befindet sich in der Mitte des Chinesischen Wortes noch das Zeichen „本“= „Ben“, dessen Bedeutung im Deutschen Ausdruck „Grundlagenübung“ nicht enthalten ist. „本“ steht für „Wurzel“ und weist piktografisch auf die Wurzelstränge einer Pflanze hin.

Nicht umsonst heisst es bei den alten Meistern: „Trage Sorge zu den Wurzeln und die Blüten und Früchte gedeihen wie von selbst.“ Dies braucht Geduld und Achtsamkeit. Zwei Eigenschaften, die in unserer eher leistungsorientierten Gesellschaft nicht gerade an erster Stelle vermittelt werden. Umso mehr freut es mich, wenn Kursteilnehmende nach ein paar Monaten regelmässigen Taiji-Trainings berichten: „Weisst du, also mit der Taiji-Form läuft’s bei mir zwar noch nicht so ganz rund … das braucht wohl noch etwas Zeit, … aber durch die Grundlagenübungen merke ich, wie meine Bewegungen im Alltag immer lockerer, immer freier werden!“ Dann wirkt Taiji über die formellen Bewegungsübungen hinaus in den eigenen Alltag … was will man mehr?! 🙂

Eine ganz gute und gesunde Winterzeit wünsche ich euch allen!

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