Neulich war ich in Berlin an einem Weiterbildungsseminar zum Thema ‚Grundlagen der Bewegung‘. Um bereits etwas bewegt und aufgewärmt am Seminarort anzukommen, hatte ich beschlossen auf Tram und S-Bahn zu verzichten und den von meiner Unterkunft aus zweistündigen Fussweg zu nehmen. Nun hatte ich im Ausland keine Internet-Daten auf meinem Handy und so prägte ich mir im Vorfeld einige wichtige Orientierungspunkte wie zum Beispiel ‚Schloss Köpenick‘, ‚Pablo Neruda Strasse‘, ‚Salvador Allende Brücke‘ und ‚Müggelspree‘ ein, damit ich auch ohne ‚google-maps‘ mein Ziel erreichen konnte. Das war dann schon ein kleines Abenteuer, diese für mich zunächst noch ziemlich abstrakten Ortsbezeichnungen dann in Echt zu finden und ganz konkret zu erleben. Ich fand das so eine tolle Erfahrung, dass ich diese Route an jenem Wochenende gleich dreimal wiederholte! Jedesmal gab es etwas Neues zu entdecken. Zum Beispiel die asiatische Statue vor dem Schloss Köpenick, die mit einem Kind auf dem Rücken tapfer einer ungewissen Zukunft entgegenblickte …
… oder die herrlich durftende und wunderschön blühende Wildkirsche entlang des Waldweges, den man aber nur dann entdecken konnte, wenn man sich nicht an die Wegempfehlung über die Salvador Allende Brücke hielt 😉
… und dann das schlichte, in sich ruhende Holzhaus inmitten der Müggelspree … um nur ein paar der Eindrücke entlang meines Fussweges zu nennen.
Und so dachte ich dann bei mir: „Ja, mit ‚google maps‘ weiss ich über den Weg Bescheid, aber ortskundiger und bewanderter werde ich erst dann, wenn ich ihn selber gehe. Und je öfter, umso mehr.“
Spannend fand ich auch festzustellen, wie das Fehlen der heute so selbstverständlichen elektronischen Hilfsmittel eine starke Anregung sein kann um seine Merk- und Orientierungsfähigkeit im äusseren Raum zu trainieren. Ich habe mich dann gefragt, ob auch die Orientierungsfähigkeit im Innenraum, also im eigenen Körper, ebenfalls von einer Reduktion von äusseren Hilfestellungen profitieren kann. Da musste ich an meinen ersten Taiji-Lehrer in China, Lehrer Chen, denken, der mir jede neue Taiji Bewegung von sich aus nur zweimal zeigte. Hatte ich ihn nach einer dritten Wiederholung gefragt, so zog er ein mürrisches Gesicht, murmelte grummlig etwas auf Chinesisch, und gab mir unmisserverständlich zu verstehen, dass dies nun aber die allerletzte Wiederholung sei. Nach dieser setzte er sich zur Seite auf die Bank, schlürfte seinen Tee und liess mich dann, so gut ich eben konnte, alleine mit der neuen Bewegung zurecht kommen. „Eine spezielle Form der Didaktik“, fand ich das damals. Jetzt erkenne ich den Wert dieser ‚Einschränkung‘. Sie kann einen dazu veranlassen, sich von Anfang an hochkonzentriert mit einer neuen Bewegungsabfolge zu befassen, um sie sich möglichst schnell zu merken und durch das wiederholte Üben zu verinnerlichen. Auf diese Weise kann nach kurzer Zeit schon eine Art ‚innere Landkarte‘ über die neuen Bewegungspfade entstehen, welche Auskunft darüber gibt, wann sich was, wo und wie bewegt. Doch auch hier gilt: „the map is not the territory.“ Um eine Bewegung wirklich zu erleben und in dieser immer wieder neue Facetten entdecken zu können, muss man sie auch machen. Einschränkende Umstände können uns am Ausführen und Erleben einer Bewegung hindern. Sie können uns aber ebenso auch ganz unverhofft zu neuen Bewegungserfahrungen verhelfen.
Ein Beispiel: In den letzten Wochen hatte es oft geregnet. Die Taiji-Morgenstunden im Freien fanden trotzdem statt. Einen kleinen, trockenen Unterstand bot uns eine nahegelegene Brücke. Viel zu klein war unser neuer Trainingsplatz für das Üben der regulären 37er Taiji-Form … und so zeigte ich den Teilnehmenden die ‚jail form‘ Variante, für die es nicht mehr als 1m2 pro Person bedurfte 🙂
Was ist der Nutzen davon? Nun, es gäbe da einige bewegungspraktische Vorzüge dieser verdichteten Ausführungsweise der Taiji-Form zu nennen. Meines Erachtens liegt jedoch ein besonders grosser Wert darin, dass man durch diese Art von Training einen kreativen Zugang zu neuen Bewegungserfahrungen finden kann … nicht trotz, sondern eben gerade dank der zunächst als einschränkend empfundenen Bedingungen! Natürlich hat das nur im Taiji seine Gültigkeit 😉 Diesen ‚constraints led approach‚, wie er in Fachkreisen auch genannt wird, halte ich wohlgemerkt in allen Ehren, freue mich aber ebenso, wenn nicht sogar noch mehr, auf die sonnigen Frühlingstage mit ganz viel Raum für gesundes und freudvolles Bewegen! Und genau das wünsche ich euch auch:
Bei jeder Wetterlage und in welcher Form auch immer – viel Freude am Bewegen!