Das Denken hat in unserer Kultur einen so grossen Stellenwert, dass ein Zustand des Nicht-Denkens – ausgenommen beim Schlafen – für viele fast undenkbar geworden ist. Zustandsbeschreibungen wie „unbedacht“, „kopflos“, „gedankenverlohren“ sind nicht besonders positiv konotiert. Auch die meist rethorisch gestellte Frage: „Was hast du dir dabei eigentlich gedacht?!“, suggeriert, dass der Gefrage sich durch sein als unzulänglich wahrgenommenes Denken in eine eher unangenehme Situation manövriert hat. Wahrscheinlich hat auch die in den Schulbüchern rege zitierte Aussage des Französischen Philosophen René Descartes: „Ich denke also bin ich“, dazu beigetragen, dass die Abwesenheit des Denkens mit etwas existenziell Bedrohlichem verbunden wird … Zeit für einen Gedankensprung …
An der Fachhochschule Nordwestschweiz (FHNW) in Brugg-Windisch gibt es einen sehr schönen und zur Einkehr einladenden Raum der Stille. Der aufmerksame Besucher wird ein diskretes Kunstwerk bemerken. In weissen Buchstaben steht auf einer etwas weniger weissen Wand der folgende Text geschrieben: „ERKENNEN DEINE GEDANKEN,“.
Was könnte das wohl bedeuten? Wie könnte diese unvollständige Aussage oder Frage weitergehen? Im Rahmen eines Wettbewerb konnten kreative Beiträge eingereicht werden, die dieses Kunstwerk sinnig und originell deuteten. Auch mich hat dieser Satzanfang zu einem kleinen Video-Beitrag inspiriert, in welchem ich mir Fragen zur Erkenntnisfähigkeit von Gedanken und zu gedankenfreiem Sein gestellt habe … und dies u.a. auch mit Grundlagenübungen aus dem Baguazhang (八卦掌) in bewegter Form versinnbildlicht habe. Hier also das Ergebnis 🙂
Zum Titel „Der weisse Gedankenstrich“: In einem Text leitet der Gedankenstrich einen neuen bzw. eingeschobenen Gedanken ein. Doch dort, wo der Gedankenstrich selbst steht, da ist (noch) kein Gedanke. Normalerweise ist der Gedankenstrich schwarz und daher auf weissem Hintergrund gut sichtbar. Ein weisser Gedankenstrich auf einem weissen Blatt Papier oder Bildschirm ist jedoch nicht sichtbar und könnte überall stehen. Überall könnte sich durch ihn ein Schlupfloch zu einem gedankenfreien Raum auftun … in welchem das eigene Sein gedankenfrei erlebt werden kann. Dieser Zustand des Nicht-Denkens sollte meiner Meinung nach nicht als Gegenpol zum Denken aufgefasst werden, sondern vielmehr als eine essenzielle Grundvoraussetzung für das Denken (und noch vieles mehr) verstanden werden. Was meint ihr dazu? Ich freue mich auf eure Gedanken und Anregungen!
Liebe Grüsse und eine schöne Sommerzeit!